Kulturschock auf dem Lande
posted at 19:37 by \rueth (29.05.2005) - www.tastenlaerm.de
Etwas merkwürdig nahm es sich schon aus, das Wilwarin-Festival auf der Liste der Tourdates von Sick of it All zu sehen. Nach ausgewachsenen Auftritten in Spanien und Österreich hatten sich die HC-Ikonen auf dem Independent-Festival in Ellerdorf angekündigt. Auch auf dem Board der Band löste diese Nachricht zunächst Unglauben aus.
Zurecht.
Denn das Wilwarin-Festival findet seit fünf Jahren auf einem Gelände statt, dass über das Jahr hauptsächlich von der Ellerdorfer Landjugend genutzt wird. Kaum der natürliche Lebensraum für Legenden des Hardcores. In dieser Zeit hat es sich es zwar einen Namen als Convent international unbekannter Bands der härteren Gangart auf hohem Niveau gemacht, konnte sich aber bisher noch nie mit einem wirklichen Headliner schmücken.
Dass dieser Umstand zu den Stärken des Festivals gehört, zeigte sich schon im Nachmittagsprogramm des Samstags. Die auftretenden Bands waren weit mehr als ein Vorprogramm.
Vor allem die Crossover-Kapelle Kultur Shock vermochte zu überzeugen. Nicht nur im Bandnamen treffen verschiedene Sprachen aufeinander. Gino Srdjan Yevdjevich, aus Bosnien stammend, singt auf serbisch, kroatisch, rumänisch, bulgarisch und englisch mit dem pathetischen Tremolo des Muezzins. Begleitet wird er von Klängen, die sich aus einer unnachahmlichen Mischung aus orientalischen Meldodien und Hardcore- und Ska-Elementen zusammensetzen. Das hohe Niveau der Instrumentalisten verkommt dabei nie zur virtuosen Nabelschau, sondern bildet die Grundlage für den halsbrecherischen Stilmix, der sich kaum, aber am besten mit der Besetzungliste beschreiben lässt.
Neben dem Bosnier Yevdjevich findet sich da sein Landsmann Mario Butkovich an der Gitarre, der sein teilweise an Django Reinhardt erinnernden "zigeunerhaften" Gitarrenspiel während seines sechs Jahre dauernden Aufenthalts in einem kroatischen Flüchtlingscamp erlernte. Val Kiossovski aus Bulgarien bedient die zweite Gitarre, nachdem er sich als Songwriter und Produzent in verschiedenen Art-Rock-Projekten seiner Heimat einen Namen gemacht hat. Bassist Masa Kobayashi wurde in Tokyo geboren und Matty Noble an der Violine ist US-Amerikaner irischer Herkunft. Schlagzeuger Chris Stromquist stammt aus Seattle, wo die Band zur Zeit beheimatet ist. Die widersprüchliche Fomulierung "zur Zeit beheimatet" war wohl selten so berechtigt. Wie temporär diese Heimat sein könnte, ließ Yevdjevich immer mal wieder anklingen, indem er bei der Bandvorstellung Mario Butkovich mehrfach mit dem Beinamen "unwanted in many countries" belegte. Er selbst lebt als Alien of Exceptional Ability, so lautet die offizielle Bezeichnung der Einwanderungsbehörde, mittlerweile legal in den USA. Beigetragen zu diesem Aufenthaltsrecht haben u.a. Joan Baez und Phil A. Robinson. Weitere prominente Unterstützung erhielt die Band durch den Faith No More Bassisten Billy Gould, der Kultur Shocks neues Album Kulture Dictatura produzierte.
Nach diesem frühen Höhepunkt des Festivals ging es zwar munter weiter, allerdings mit einem starken Einschlag Richtung Brachialklängen. Während die Rockaway Beachboys mit einem reinen Ramones-Cover-Programm sich als Garanten für Partystimmung erwiesen, vermochten die Traceelords die Wartezeit auf SOIA mit ihrem grottenschlechten Auftritt kaum zu verkürzen.
Als die New Yorker nach Mitternacht die Bühne betraten brach augenblicklich die Hölle lös. Das Gelände der Landjugend Ellerdorf verwandelte sich in eine moderne Version der Bilder von Hieronymus Bosch. Sollte jemals die passende Begleitmusik für einen Lynchmord gesucht werden, böten sich diese Band geradezu an. Da ich nicht eben mit einem ausgeprägten Urvertrauen in die menschliche Spezies ausgestattet bin, war ich schon ziemlich froh diesem Ereignis backstage beiwohnen zu dürfen. Diese Perspektive zeigte:
Die Jungs haben Spass an ihrer Sache.
Und wenig Berührungsängste zu ihrem Publikum. Das durch die Organisatoren angeheuerten Security-Personal, die zu Beginn noch versuchten, die "Zuhörer" davon abzuhalten, die Bühne zu erklimmen, ihre Idole zu umarmen, übers Mikrofon mitzugrölen oder die herrliche Perspektive der tobenden Menge zu genießen, um sich dann kopfüber wieder in tanzenden Wogen zu verabschieden, wurde schon während des ersten Stückes selbst von der Band des Feldes verwiesen. Sichtlich verunsichert durch diese Mißachtung ihrer Wichtigkeit und des Applauses, den diese Entscheidung auslöste, konnten sie allerdings eine gewisse Erleichterung nicht verhehlen. Der Zwei-Meter-Hühne aus der Tour-Crew von SIOA, der für den Rest des Konzertes für "Sicherheit und Ordnung" sorgte, hatte allerdings nicht viel zu tun.
Und darin lag das eigentliche Wunder dieses Konzertes: Wie durch das Zelebrieren reiner Aggression eine Kraft und positive Energie entstehen kann, die nicht zu Anarchie und Knochenbrüchen führt, sondern zu einem karthatischen Erlebnis, das Gemeinschaft schafft statt sie zu zerstören.
Damit war der Auftritt von Sick of it All, der seitens der Veranstalter auch mit der Befürchtung verbunden war, ob das vor allem durch Gemeinschaftsgefühl getragene Festival einen solchen Headliner tragen könnte, zuguterletzt ein Höhepunkt, der dem Geist vom Wilwarin entsprach: ein Riesenfest.
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